Das volkstümliche Café
(...) Anders als das Cafe und das Restaurant bürgerlichen oder kleinbürglerlichen Zuschnitts, wo jeder Tisch ein Territorium für sich darstellt (...), bilde das volkstümliche Cafe eine Gesellschaft (was das "Tag allerseits", "Tag Kumpels" der Neueintretenden zum Ausdruck bringt), in dem man sich integriert. Zentrum ist die Theke, an der man steht nachdem man dem "Patron", der so die Stellung eines Gastgebers einnimmt (und häufig auch das Spiel leitet), manchmal auch allen Anwesenden die Hand geschüttelt hat (die Tische - sofern es überhaupt welche gibt- bleiben den "Fremden" sowie den Frauen vorbehalten, die schnell mal telefonieren oder ihre Kinder etwas trinken lassen wollen). Hier im Cafe erreicht nicht zuletzt die ganz und gar volkstümliche Kunst des Witzes ihre höchste Vollendung, dh. die Kunst, nichts ernst zu nehmen (von daher Wendungen "im Ernst", "Scherz beiseite", mit denen zu ernsteren Dingen oder auch zu neuen Witzen übergegangen wird), zugleich jedoch auch die Kunst, jemanden auf den Arm zu nehmen, mit Vorliebe den Dicken, zeichnet sich doch mehr als alle anderen durch eine Eigenschaft aus, die nach populären Ansicht weniger Makel denn pittoreske Besonderheit ist und weil das gutmütige Wesen, das man ihm zuspricht, ihn dazu befähigt den Witz auf die leichte Schulter zu nehmen - mit einem Wort jene Kunst, sich über die anderen lustig zu machen, ohne sie zu verärgern, mit Hilfe ritueller Späße und Beschimpfungen, die gerade ihre Übertriebenheit entschärft, und die dadurch, dass sie sowohl der Kenntniss, die sie benutzen, wie der von ihnen offenbarten Freiheit wegen eine große Vertrautheit vorraussetzen, in der Tat von Aufmerksamkeit und ZUneigung zeugen: eine Form, jemanden unte Anschein ihn herunterzumachen Achtung zu zeigen, unter dem Deckmantel der Verurteiloung ihn anzuerkennen - freilich prüft man so auch jene, die gegenüber der Guppe auf Distanz gehen möchten
Bourdieu, Pierre || Die feinen Unterschiede
Bourdieu, Pierre || Die feinen Unterschiede
pierluigi - 19. Nov, 18:24